Innovation

Prof. Dr. med. Christian Gerloff ist derzeit als Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie, Ärztlicher Leiter des Kopf- und Neurozentrums sowie Stellvertretender Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) tätig. Seit 2021 fungiert er außerdem als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.
Zum 1. Januar 2023 wird er sein Amt als Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des UKE antreten.
Innovation im Gesundheitswesen: Im Mittelpunkt muss stets der Mensch stehen

Annekathrin Walter im Gespräch mit Prof. Christian Gerloff

Innovation ist ein inflationär eingesetzter Begriff. Was zeichnet für Sie persönlich eine echte Innovation aus?

Prof. Christian Gerloff (CG): Für mich zieht eine echte Innovation einen Qualitätssprung nach sich oder, anders gesagt, stellt den „disruptiven“ Charakter einer neuen Idee dar.

An welchem Innovationsprojekt haben Sie zuletzt mitgewirkt?

CG: Ich habe zum Beispiel an einem Projekt mitgewirkt, dass auf Basis maschinellen Lernens die Vorhersage kritischer Krankheitsphasen bei Intensivpatienten ermittelt. Und – im Moment noch eher evolutionär als disruptiv – arbeite ich an der Implementierung eines digitalen klinischen Informationssystems mit neuem Datenmodell und Workflow-Engine. Auch bei diesem Vorhaben erwarte ich mir nach erfolgreichem Roll-Out mittelfristig einen Qualitätssprung.

Warum sind Innovationen im Gesundheitswesen wichtig für unsere Gesellschaft?

CG: Gesundheit ist die wichtigste Grundlage für Lebensqualität und damit auch für das Glücklichsein und das würdevolle Miteinander. Wir sollten jede neue Idee nutzen, um dies zu verbessern. Was nützt uns ein langes Leben ohne gute Lebensqualität? Was nützt uns Wohlstand, wenn dieser nicht mit Gesundheit im Einklang steht?

Sie sind Professor für Neurologie, seit 2021 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Die Neurologie ist ein komplexes, zukunftsfähiges Fachgebiet. Welche innovativen Entwicklungen beobachten Sie in Ihrem Fachbereich, die gesamtgesellschaftlichen Einfluss haben?

CG: Richtig. Die Neurologie hat eine unfassbar dynamische Entwicklung durchgemacht. Über einen längeren Zeitraum betrachtet hat sicherlich die Revolution der Schlaganfalltherapie seit den 1990er Jahren durch die Neurologie den größten gesamtgesellschaftlichen Effekt. Während damals Patientinnen und Patienten keinerlei zielgenaue Therapie erhielten, sondern in abgelegene Ecken großer Stationen gelegt wurden, um dort den Verlauf oder das Sterben abzuwarten, erfolgt heute eine multimodale Therapie auf Spezialstationen, den neurologischen Stroke Units. Ein weiteres Beispiel sind exponentiell zunehmende Möglichkeiten, wie wir das Immunsystem gezielt medikamentös beeinflussen können, zum Beispiel in der Therapie der Multiplen Sklerose. Und der jüngste Game-Changer ist definitiv, dass wir in der Neurologie nun die ersten zugelassenen Gentherapien haben. Nach Dekaden systematischer Grundlagenforschung und Beschreibung genetischer Erkrankungen wie der Spinalen Muskelatrophie, können wir diese heute therapieren. Das ist wirklich disruptiv, zumal es auch die Kostenstrukturen im Gesundheitssystem auf die Probe stellt. Eine einzelne Spritze kann über 2 Millionen Euro kosten. Dagegen sind selbst komplexe Operationen „billig“.

Zum 1. Januar 2023 werden Sie Ihr Amt als ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des UKE antreten. Mit welchen Innovationsthemen befasst sich das UKE derzeit und welche werden Sie besonders in den Fokus nehmen?

CG: Die digitale Transformation und die kontinuierliche Verbesserung unserer klinischen und administrativen Prozesse stehen ganz im Mittelpunkt.

Die Medizin wird in Zukunft die Milliarden Datenpunkte, die derzeit noch weitgehend brach liegen und kontinuierlich anwachsen, zunehmend nutzen, um daraus zu lernen. Es wird Assistenzsysteme geben, die uns helfen, Fehler zu vermeiden. Wir werden die Möglichkeit haben, aus Routinedaten die Wirkung unseres Handelns feingranulär zu analysieren und damit die Präzisionsmedizin voranzutreiben. Maschinelles Lernen kann uns helfen, klinische Pfade effizienter und sicherer zu machen und in einen kontinuierlichen Optimierungsprozess zu überführen.

Wenn wir es richtig anstellen, werden dadurch die Arbeitsbedingungen in den Gesundheitsberufen besser, weil sicherer und qualitativ noch besser gearbeitet werden kann. Unter nichts leiden in den Gesundheitsberufen Tätige mehr, als unter dem Gefühl, den anvertrauten Patientinnen und Patienten nicht gerecht zu werden, oder, im schlimmsten Fall, sogar einen Fehler gemacht zu haben. Das UKE verfügt bereits seit 2009 über ein komplett digitales Informationssystem, hat dieses systematisch weiterentwickelt, und wir werden jetzt unsere Erfahrung nutzen, um das medizinische Arbeiten in einem neuen digitalen Umfeld auf das nächste Level zu heben.

Bei all dieser Weiterentwicklung müssen die Menschen im Mittelpunkt stehen. Gerade im Gesundheitssystem muss mit der Beziehung zwischen Technologie und Mensch, die idealerweise symbiotischer Natur ist, sehr behutsam, aber eben auch innovativ und offen umgegangen werden. Wir müssen die modernen Möglichkeiten schlanker digitaler Prozesse nutzen und die dadurch entstehende Transparenz und Flexibilität ideal einsetzen. Change-Management, eine gute Kultur im Umgang mit Fehlern, Zuhören und: in interprofessionellen Teams jede und jeden ernst nehmen. Auch darauf wird mein Fokus liegen.

Positiv betrachtet hat die Pandemie gezeigt, wie gesellschaftsrelevant und systemkritisch unsere Arbeit im Gesundheitssystem ist. Der Sinngehalt dieser Arbeit ist unbestritten, und das fühlt sich für mich im UKE jeden Tag aufs Neue gut an. Ich sehe es als eine wichtige Aufgabe, dieses positive Bild des Arbeitens im Gesundheitssektor auch unermüdlich publik zu machen, auch im Hinblick auf die Begeisterung junger Menschen für unsere Berufe.

Innovationen können nur entstehen, wenn eine Organisation „reif“ dafür ist und die entsprechenden Weichen stellt. Was tut das UKE für die eigene Innovationsfähigkeit?

CG: Zunächst hat das UKE als Universitätsklinik hier einen Vorteil. Forschung und Innovation stecken so tief in unserer DNA, dass wir ohne diese gar nicht atmen würden. Stillstand? Undenkbar. Insofern haben wir eine besonders hohe Dichte an Menschen, die das Neue suchen. Das macht die Arbeit am UKE ganz besonders attraktiv.

Selbstverständlich entbindet einen das in keiner Weise davon, bei jeder Innovation mit hoher Sensibilität darauf zu achten, dass alle involvierten Menschen, egal aus welcher Berufsgruppe, mitgenommen werden, ihnen die erwarteten positiven Effekte nahegebracht werden und sie durch gemeinsame Ziele geführt und begleitet werden. Bei der jetzigen Umstellung unseres digitalen Informationssystems haben wir zum Beispiel über Jahre in interprofessionellen Gruppen die Anforderungen erarbeitet, haben eine breite Basis an Mitarbeitenden in den gesamten Beschaffungsprozess involviert und pflegen diese Vorgehensweise durchgängig im gesamten Roll-Out- und Entwicklungsprozess. Damit ist diese neue digitale Welt dann wirklich „unsere“ neue Welt und nichts von oben Verordnetes. Dabei möchte ich betonen, dass wir seit 2009 digitalisiert sind. Es gibt also enorm viel Erfahrungswissen und eine sehr respektable digitale „Flughöhe“.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist der professionelle Umgang mit Fehlern und Misserfolgen. Fokussieren sich Haltung und Handeln auf persönliche Absicherung, begleitet von einem ängstlichen Blick über die Schulter, dann bleiben Innovationen aus. Eine disruptive Änderung geht immer mit einem gewissen Risiko einher. Jede und jeder muss wissen und fühlen, dass Rückendeckung durch die Führungskräfte garantiert ist. Dann entsteht unternehmerische Agilität. Man muss den Mitarbeitenden Neues auch zutrauen – von der Idee bis zur Umsetzung. Natürlich gibt es auch Projekte, die sich im Nachhinein als weniger gut herausstellen. Dann heißt es „Strich drunter“, soviel daraus lernen wie möglich und gemeinsam einen neuen Anlauf starten.

Welche Rolle spielen dabei Führungspersönlichkeiten und Vorbilder?

CG: Führungspersönlichkeiten und Vorbilder spielen die denkbar größte Rolle.

„Wasser predigen und Wein trinken“ geht genauso wenig wie fehlende Agilität der Führungskräfte im Umgang mit innovativen Ideen aus dem Team. Die Bereitschaft, neue, auch einmal mit einem Restrisiko verbundene Wege zu gehen, müssen Führungskräfte genauso vorleben wie die Haltung, eigenes Handeln kritisch zu hinterfragen und offen mit eigenen Fehlern umzugehen.

Eine gute Führungskraft sollte ihre Mitarbeitenden gernhaben, das Positive erkennen und ihre Führungsrolle mit Liebe und Respekt zu den Menschen ausfüllen. Dann ist alles einfacher. Sie sollte sich spontan und authentisch über die Erfolge der Mitarbeitenden freuen und verlässlich und mühelos dafür Sorge tragen, dass die Anerkennung denjenigen zukommt, die sie verdienen. Auch das macht ein Team agil und innovativ.

Gibt es ein Erlebnis, das Sie als richtigen „Innovationskiller“ bezeichnen würden?

CG: Durchaus. Ich möchte die Frage dennoch etwas allgemeiner beantworten und als Beispiele mangelnde Feedback-Kultur und Überregulierung nennen.

Wird eine innovative Idee von Mitarbeitenden begeistert platziert, egal wie, wo und wann, dann gilt es zuzuhören und zeitnah Feedback zu geben. Bleibt das Feedback über Wochen, Monate oder gar Jahre aus, oder wird ein Vorschlag nach langer Zeit mit kleinkarierten Anmerkungen beantwortet, dann „killt“ das den Innovationsgeist.

Ein anderes Beispiel ist die Überregulierung in Kombination mit überzogenem Absicherungsverhalten. Ein innovationsfreundliches Klima setzt voraus, dass „Out-of-the-Box“-Denken nicht sofort als Regelwidrigkeit abgestempelt wird.

Haben Sie ein gutes Bespiel für „Innovation made in Germany“?

CG: Wie agil und innovativ die deutsche Forschung ist, haben wir ja gerade in der COVID-19-Pandemie gesehen, als einer der wirksamsten und am schnellsten zugelassenen Impfstoffe aus Deutschland kam. Als vor einigen Jahren eine neue Substanzklasse von blutverdünnenden Medikamenten weltweit eingeführt wurde und das alte Marcumar weitgehend abgelöst hat, waren deutsche Unternehmen ebenfalls ganz vorne. Überhaupt haben wir im Bereich der Grundlagenwissenschaften in Deutschland ein enorm hohes Innovationspotenzial.

Bei digitalen „Big Points“ im Gesundheitswesen sind wir leider nicht vorne dabei. Was andere Länder da besser implementiert haben, ist vor allem die sektorenübergreifende Vernetzung von Gesundheitsdaten und die Verlinkung mit Patientinnen und Patienten selbst. Ansonsten kochen zum Beispiel die U.S.A. auch nur mit Wasser und haben ähnliche klinische Informationssysteme wie wir in Deutschland. Wir können also gut aufholen, wenn wir dies entsprechend hoch priorisieren.

Mit Blick auf die weitere Innovationsfähigkeit in den für Sie relevanten Wirkungsfeldern: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

CG: Ich möchte diese Frage einmal in interne und externe Faktoren auftrennen.

Innerhalb unserer Teams in den Gesundheitsberufen haben wir als Führungskräfte noch viel zu verbessern, um das Klima innovationsfreundlicher und agiler zu machen. Also an die eigene Nase fassen!

In Hinblick auf externe Faktoren und den internationalen Wettbewerb müssen wir der hingabevollen Überregulierung entgegenwirken. Jede neue regulatorische Einschränkung sollte mit der Verpflichtung verbunden werden, dafür auch Lösungswege aufzuzeigen. Es kann nicht sein, dass wir Aufwand und Kosten durch absurde regulatorische Anforderungen unverhältnismäßig in die Höhe treiben. Schon heute ist es so, dass kaum noch einzelne Forschende oder Forschungsgruppen eine große Medikamentenstudie auf den Weg bringen können – regulatorisch zu aufwändig.

Und schließlich: Mut zu Entscheidungen und eine motivierende und verzeihende Fehlerkultur, die aus jedem Scheitern etwas Neues entstehen lässt.

Forschung und Innovation stecken so tief in unserer DNA, dass wir ohne diese gar nicht atmen würden.

Prof. Christian Gerloff


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